2/8 Selektivität des Bildungssystems

Maturaklasse des Freien Gymnasiums Bern, Umzug durch die Stadt, 1936 (Staatsarchiv Bern; FN Jost N 2225).

Wie gerecht hat Schule zu sein?

Die Selektionsaufgabe der Schule ist umstritten. Die Frage der Chancengleichheit oder -gerechtigkeit gehört zu den zentralen Streitpunkten der Bildungspolitik. Wie sehr darf in einer demokratischen Gesellschaft der schulische Erfolg von der Herkunft oder dem Elternhaus abhängen?

Die Schule erfüllt neben der Förderung und Qualifikation auch die Funktion der Selektion (Auslese). Mit der Vergabe von Beurteilungen schätzen die Lehrpersonen die Leistung der Lernenden ein. Je nach Schulabschluss stehen den Jugendlichen dann unterschiedliche Ausbildungswege offen. Wie stark soll die Schule in Zukunft noch Selektion betreiben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was wir als Gesellschaft als Ziel schulischer Bildung bestimmen: Das Erreichen einer soliden Grundbildung? Die Förderung von Exzellenz? Oder steht die Förderung individueller Stärken im Zentrum? Abhängig davon kann das Bildungssystem der Zukunft durchlässig und wenig selektiv oder geschlossen und stärker selektiv gestaltet sein. 


WAS DIE SCHULE BEWEGT

SCHULREFORMEN DER VERGANGENHEIT UND der ZUKUNFT


1850-1900 Das bürgerliche Gleichheitsversprechen

Primarschulpflicht

Die Schulpflicht wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Kantonen eingeführt und galt ab 1874 schweizweit. Damit sollte eine Grundschulbildung für alle sichergestellt werden. Sie erstreckte sich jedoch nur auf den Besuch der Primarschule während vier bis sechs Jahren. Weiterführende Sekundar- oder Bezirksschulen waren zunächst nicht obligatorisch und auch kostenpflichtig. Der Anteil der Landkinder in weiterführenden Schulen war trotz dezentraler Standorte überproportional geringer als jener der Kinder aus den Städten und den Agglomerationen.

Ansichtskarte des Primar- und Sekundarschulhauses der Gemeinde Wichtrach, 1900 (Staatsarchiv Bern; T. A Wichtrach 2).

Getrennte Geschlechter

In den grösseren Städten wurden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Auf dem Land erlaubten die knappen Finanzen der Gemeinden in der Regel keine geschlechtergetrennten Klassen. Während sich in den Primarschulen der gemischtgeschlechtliche Unterricht mehr und mehr durchsetzte, blieben die weiterführenden Schulen (Sekundarstufe I und II) bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geschlechtergetrennt. Kirchliche Kreise wehrten sich gegen die Koedukation, weil ihnen dadurch die «Sittlichkeit» gefährdet schien. Überdies unterstellte man den Mädchen geringere intellektuelle Fähigkeiten.

Die Knaben sitzen auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen. Klassenzimmer in Zürich um 1935 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).

Die Anfänge der Sonderpädagogik

1868 zählten die Gemeinnützige Gesellschaft und die Schweizerische Statistische Gesellschaft ungefähr 20'000 «schwachsinnige und schwachbegabte» Kinder, für die in vier Institutionen – etwa der Anstalt Weissenheim in Bern (1868) – lediglich neunzig Plätze zur Verfügung standen. In der Folge bemühte sich die sogenannte Konferenz für das Idiotenwesen um die Einrichtung von «Spezialklassen für schwachbegabte Kinder», deren erste 1882 in La Chaux-de-Fonds gebildet wurde. Ab den 1970er-Jahren setzten sich die Begriffe «Kleinklasse» für Lernende mit Lernbehinderungen und Verhaltensschwierigkeiten und «Sonderschule» für Kinder und Jugendliche mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung durch.

Schulheim Weissenheim Bern, 1911 (Archiv Weissenheim, Bern).


1900-1960 Frühe Auslese

Schulstufen

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die obligatorische Schulzeit auf die Sekundarstufe I ausgedehnt. Dadurch verfestigte sich allerdings auch das System der frühen Auslese. Die Einteilung eines Kindes entweder in eine Primarschulmittel- und oberstufe, in eine Sekundarschule oder ein Untergymnasium erfolgte in den meisten Kantonen nach der sechsten oder bereits nach der vierten Primarklasse. Da das Schulwesen spätere Übertritte kaum zuliess, war die Zuteilung in den meisten Fällen endgültig.

Klassenfoto Sekundarschule Spitalacker Bern, 1949 (Staatsarchiv Bern; FN Jost N 10576).

Ausbau der Mittelschulen

Der Zugang zu den Mittelschulen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg erleichtert. In Zürich stellte allein die Kantonshauptstadt bis in die 1950er-Jahre stets rund die Hälfte der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Mit der Gründung der ersten Landmittelschule in Wetzikon 1955 wurden eine ausgeglichenere regionale Verteilung der Bildungschancen angestrebt und ein massiver Ausbau des gymnasialen Schulwesens in den 1960er- und 1970er-Jahren eingeleitet. Die Öffnung erfolgte allerdings weniger stark als in den Nachbarländern.

Neubau der Kantonsschule Zürcher Oberland in Wetzikon, ca. 1955.


1960-1990 Der Ruf nach Chancengleichheit

Gesamtschulen

Im Fahrwasser der 1968er-Bewegung mit ihrer Institutionskritik und der Debatte um antiautoritäre Erziehung kamen staatliche Schulen mehr und mehr unter Beschuss. Kritisiert wurden die Selektionspraxis und die mangelnde Chancengleichheit. Eine Lösung schien in der Einrichtung von Gesamtschulen zu liegen, wo schwache und starke Lernende nebeneinander und voneinander lernen sollten. Vorgesehen war zudem, die Selektion auf später zu verschieben. Diese Projekte kamen aber nie über die Versuchsphase hinaus, ausser in Genf mit der Orientierungsstufe und im Tessin mit der scuola media unica.

Abstimmungsplakat der 1982 im Kanton Bern vom Stimmvolk verworfenen Volksinitiative «Fördern statt auslesen», die unter anderem eine Verschiebung des Übertrittszeitpunkts in die Sekundarstufe von der vierten in die sechste Klasse forderte (Schweizerisches Sozialarchiv; Sozarch_F_Ka-0001-512).

Schrankkinder

Da ihren Eltern der Familiennachzug gesetzlich verboten war, lebten viele Kinder italienischer Saisonniers als sogenannte «Schrankkinder» in der Schweiz. Der Besuch der öffentlichen Schule war ihnen als «Illegale» nicht erlaubt. Auf private Initiative wurden daher mancherorts italienische Schulen gebildet. Diese Grauzone dauerte an bis in die 1990er-Jahre, als die meisten Kantone dem Recht auf Schulbildung Vorrang gegenüber den Regeln für die Einwanderung einräumten. 1997 ratifizierte die Schweiz die UNO-Kinderrechtskonvention, die ausdrücklich das Recht auf kostenlose Grundschulbildung für alle Kinder vorsieht. Heute kann jedes Kind eine staatliche Schule besuchen.

Eine Schulklasse der italienischen Unterstufe in St. Gallen, Ende der 1960er-Jahre (Historisches Museum St. Gallen).


1990-2010 Inklusion und Integration

Integrative Schule

Bereits in den 1990er-Jahren konnte relativ eindeutig festgestellt werden, dass Kinder mit schwacher Leistung in Sonderklassen weniger gut gefördert werden als in Regelklassen und geringere Chancen für die Integration in den Arbeitsmarkt haben. 2007 beschlossen die Kantone daher, die Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen in der Regelschule zu fördern. In der Folge wurden das sonderpädagogische Angebot in die Regelklassen integriert und die Klein- und Sonderklassen sukzessive abgeschafft.

Anteil der Lernenden, die separiert in Sonderschulen unterrichtet werden (Datenquelle: Bundesamt für Statistik).

Berufsmaturität

In den 1970er- Jahren klagten die Höheren Technischen Lehranstalten (heute Fachhochschulen) über Nachwuchssorgen, während die traditionellen Hochschulen über Zulassungsbeschränkungen nachdenken mussten. Aus dieser Konkurrenz erwuchs die Idee der Berufsmatura, die Mitte der 1990er-Jahre eingeführt wurde. Innert weniger Jahre entstand ein flächendeckendes Angebot. Mit der Einführung der Berufsmaturität und den Fachhochschulen ist die berufliche Bildung deutlich aufgewertet worden. 

Werbung für die Berufsmaturität, 1999.


2010 – Zukunft Der Pressespiegel: Chancen für die Zukunft?

Mehr Gerechtigkeit durch Algorithmen

Dass Kinder das nächstgelegene Schulhaus besuchen, ist in der Schweiz der Normalfall. Für eine bessere soziale Durchmischung könnten jedoch künftig Computerprogramme sorgen. Dies verlangen die Volksschulverordnung des Kantons Zürich und das Schulreglement der Stadt Bern. Entsprechende Tests laufen im Kanton Zürich bereits. Der vom Zentrum für Demokratie Aarau entwickelte Algorithmus stützt sich auf soziale Kriterien, wie Fremdsprachigkeit, Haushaltseinkommen und Geschlecht sowie auf die Kompetenzen der Kinder gemäss der Beurteilung durch die Kindergarten-Lehrperson.

SonntagsZeitung, 19. September 2021

Chancengleichheit?

Gemäss einem Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats von 2018 weist das Schweizer Bildungssystem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ein hohes Ausmass an Chancenungleichheit auf. Ins Gewicht fallen dabei insbesondere eine wenig verbreitete frühkindliche Betreuung und Förderung, eine frühe Selektion in die Schultypen und Leistungsstufen auf der Sekundarstufe I, eine geringe, aber hochgradig sozial homogene Maturitätsquote sowie ein geringer Anteil Studierender an Universitäten.

Neue Zürcher Zeitung, 29. Dezember 2018

Quelle: Bildungsstatistik Kanton Zürich

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