1/8 Trägerschaft und Steuerung

Schulkommission, Ort unbekannt, ca. 1925-1935 (Staatsarchiv Bern; V Frauenzentrale 376).

Wer steuert die Schule in die Zukunft?

In der Schweiz ist seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Staat (Kanton) für die Schulbildung verantwortlich. Die staatliche Hoheit über die Schule wird bis heute aber auch kritisch gesehen. Mit Blick auf die Zukunft stellt sich daher die Frage, ob die Volksschule in dieser Form weiterbestehen oder ein Abbau an staatlicher Lenkung erfolgen wird.

Seit 1874 schreibt die Bundesverfassung für alle Kinder in der Primarschule einen obligatorischen, kostenlosen und bekenntnisunabhängigen Unterricht vor. Die politische Hoheit über die Volksschule liegt jedoch bei den Kantonen und Gemeinden. 2007 haben sich mehrere Kantone mit dem Ziel zusammengeschlossen, die Unterschiede zwischen den kantonalen Lehrplänen und Schulsystemen abzubauen (HarmoS-Konkordat). Der bildungspolitische Trend geht damit hin zu einer zentraleren Steuerung der Schule. Zugleich werden immer wieder gegenteilige Forderungen laut: nach freier Schulwahl, Bildungsgutscheinen, Schulautonomie oder gar einer Privatisierung der Schulen.


Was die Schule bewegt

Schulreformen der Vergangenheit und der Zukunft


1850-1900 Schule im neuen Bundesstaat

Obligatorische Volksschule

Bereits in den 1830er-Jahren waren in den liberalen Kantonen obligatorische Volksschulen entstanden. Schweizweite Gültigkeit erhielt die Schulpflicht mit der revidierten Bundesverfassung von 1874. Das bundesstaatliche Obligatorium schreibt jedoch bis heute lediglich einen Unterrichtszwang vor. Der geforderte Minimalunterricht kann – von kantonalen Einschränkungen abgesehen – auch an Privatschulen oder als Hausunterricht stattfinden. Die Einrichtung des Amtes eines eidgenössischen Erziehungssekretärs lehnte das Stimmvolk 1882 ab. Die Schulaufsicht blieb damit ausschliesslich Sache der Gemeinde- und Kantonsbehörden.

Widerstand gegen die Einrichtung des Amtes eines eidgenössischen Erziehungssekretärs. Anonymes Flugblatt vom 11. November 1882.

Widerstand gegen den Schulzwang

Die Schulpflicht stiess während des gesamten 19. Jahrhunderts bei vielen Familien und Gemeinden auf Widerstand. Ein Grund dafür war die Kinderarbeit in Landwirtschaft und Fabriken, die von vielen Eltern als selbstverständlich angesehen wurde. In einer ländlichen Gemeinde wie Köniz zählte die Schule im Sommer rund halb so viel Schülerinnen und Schüler wie im Winter. Auch die Fabrikbesitzer widersetzten sich der Schulpflicht. In einigen Kantonen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Betrieben Fabrikschulen eingerichtet, wo unter der Woche arbeitenden Kindern am Sonntag Unterricht erteilt wurde.

Junge aus der Ostschweiz arbeitet an einer Handstickmaschine, um 1912 (Schweizerisches Nationalmuseum).

Lehrpläne und Lehrmittel

Um gleichförmigen und qualitativ hochstehenden Unterricht zu gewährleisten, führten alle Kantone im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts Lehrpläne ein. Damit diese auch umgesetzt wurden, liessen die Kantone zugleich mehr Lehrmittel produzieren, gründeten teilweise eigene Lehrmittelverlage und erklärten die Verwendung bestimmter Lehrmittel für obligatorisch.

Der 1910 von der EDK (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) herausgegebene Schweizer Schulatlas ist das erste nationale Lehrmittel der Schweiz.


1900-1960 Ausbau der Volksschule

Verlängerte Schulpflicht

Mit dem Verbot der Kinderarbeit im Jahre 1877 drängte sich eine Verlängerung des obligatorischen Schulunterrichts auf. Die meisten Kantone verfügten um die Jahrhundertwende über eine zwei bis drei Jahre dauernde Oberstufenschule, die auf die vier bis sechs Jahre dauernde Primarschule folgte. Die Oberstufe war zumeist zweigeteilt in eine einfache Fortsetzung der Primarschule und einen höheren Ausbildungsgang: die Sekundar-, Real- oder Bezirksschule. Der Besuch der weiterführenden Schulen blieb allerdings zunächst freiwillig. Erst in den 1930er-Jahren setzte sich das Obligatorium der Volksschuloberstufe in den meisten Kantonen durch.

Postkarte des Sekundarschulhauses Lützelflüh, um 1910 (Staatsarchiv Bern; T. A. Lützelflüh 20).

Schulevaluation

Die Evaluation von Schulen ist eine historisch gewachsene Praxis, die bis auf das 18. Jahrhundert zurückreicht. Staatliche Schulinspektorate waren bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich. Auch Rekrutenprüfungen, die in der Schweiz bis heute abgehalten werden, erfüllten die Funktion der Leistungsevaluation.

Besuch des Schulinspektors im Kanton Thurgau, 1936.


1960-1990 Staatskritik und die 68er-Bewegung

Experimentelle Privatschulen

Die autoritätskritische Grundhaltung der 1968er-Bewegung führte dazu, dass sich manche Eltern von den staatlichen Schulen abwandten. So erfuhren Rudolf-Steiner-Schulen, die es bereits seit den 1920er-Jahren gab, wieder Zuwachs. Andere gründeten kurzerhand ihre eigenen Schulen. In den 1970er-Jahren schossen Initiativen für eine neue Pädagogik und Modellschulen in freier Trägerschaft wie Pilze aus dem Boden. So etwa ab 1971 die Freien Volksschulen, zuerst in Zollikon (Kanton Zürich) und kurze Zeit später auch in Bern und Basel.

Zürcher Manifest 4.-9. September 1968, handgeschriebenes Plakat (Schweizerisches Sozialarchiv; Sozarch_F_5093-Zd-315).

Schulkonkordat

Die Angleichung der kantonalen Schulsysteme wurde Ende der 1960er-Jahre zu einem grossen bildungspolitischen Reformthema. Die Bemühungen, die Schulstrukturen und Lehrpläne zu vereinheitlichen, blieben allerdings lange relativ erfolglos. 1970 legten die Kantone auf dem Konkordats-weg immerhin wenige Eckwerte für die Volksschule fest (Schuleintrittsalter, die Mindestzahl der Schulwochen pro Jahr, die neunjährige Unterrichtspflicht und die Schuldauer bis zur Matura). Der Schuljahresbeginn konnte jedoch erst 1985 per Volksabstimmung landesweit vereinheitlicht werden.


1990-2010 Harmonisierung ohne Harmonie

HarmoS

Der zunehmende Druck von aussen im Zug der europäischen Integration und Globalisierung führte zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu, dass die Angleichung der kantonalen Schulsysteme erneut in Angriff genommen wurde. Der Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule von 2007 (HarmoS-Konkordat) stimmten bis 2011 fünfzehn Kantone zu, während sieben die Vereinbarung ablehnten.

Abstimmungsplakat gegen HarmoS (Schweizerisches Sozialarchiv; Sozarch_F_5123-Pe-215).

Freie Schulwahl

Bereits 1983 wurde im Kanton Bern eine Initiative «Für eine freie Schulwahl» klar verworfen. Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, sollten einkommensabhängige Zuschüsse erhalten. Die Idee hält sich jedoch seither hartnäckig und gelangte in verschiedenen Kantonen immer wieder vors Stimmvolk. Umstritten sind die möglichen Auswirkungen einer solchen Reform. Befürwortende verweisen darauf, dass mehr Wettbewerb zwischen den Schulen zu besserer Bildungsqualität führe. Die Gegenseite sieht in der freien Schulwahl einen ersten Schritt hin zu einer Privatisierung der Schulen und befürchtet einen Rückschritt in Sachen Chancengleichheit.

Abstimmungsplakat der kantonalen Volksinitiative «Freie Schulwahl für alle» im Kanton Thurgau von 2010 (Schweizerisches Sozialarchiv; Sozarch_F 5123-Pe-035).


2010 – Zukunft Der Pressespiegel: Volksschule 2.0.?

PISA-Steuerung

Die Harmonisierungsbestrebungen im Schweizer Bildungssystem waren auch eine Folge des «PISA-Schocks». Die seit dem Jahr 2000 durchgeführten internationalen Schulleistungsuntersuchungen erzeugen jeweils eine hohe mediale Aufmerksamkeit und beeinflussen damit auch die Formen der Bildungssteuerung. Bildungspolitische Entscheidungen werden zunehmend anhand gemessener Ergebnisse wie Kompetenzen oder Abschlüssen getroffen. Dies wird mitunter kritisch gesehen, zum Beispiel in Bezug auf den Druck, Lehrpläne in Richtung unmittelbar alltagsrelevanter Fertigkeiten anzupassen.

Luzerner Zeitung, 07. Dezember 2016

Globalisierter Bildungsmarkt

Als eine Folge der Globalisierung ist so etwas wie ein globaler Bildungsmarkt entstanden. Nach dem Gesundheitsmarkt wird der Bildungsmarkt als der weltweit grösste Markt gehandelt. Privatschulanbieter, wie die in Dubai ansässige GEMS World Academy, gründen weltweit Schulableger. Neben dem direkten Zugriff auf den Bildungsmarkt, gibt es jedoch auch einen indirekten: Konzerne wie Apple oder Google stellen den Schulen Computer und/oder Software zur Verfügung und nehmen dadurch auch inhaltlich Einfluss.

Der Bund, 1. November 2012

GEMS World Academy in Genf

Weiter
Weiter

2/8 Selektivität des Bildungssystems