5/8 Möglichkeiten der Partizipation und Beteiligung

Schüler bei der Arbeit mit der Schuldruckerei, École de la Madeleine in Lausanne, 1983 (Dossier Freinet, Archives cantonales vaudoises).

Wer redet in der Schule von morgen mit?

Wie geht die Schule in Zukunft mit der Frage nach Mitsprache und Beteiligung der Lernenden, der Eltern oder des Lehrkörpers selbst um? Werden Kinder und Jugendliche vermehrt in Entscheidungen einbezogen, die ihr Lernen und das schulische Umfeld betreffen? Oder beschränkt sich ihre Partizipation im Wesentlichen auf Teilnahme und Mitarbeit?

Der Begriff Partizipation meint Beteiligung und Mitsprache. Partizipation in der Schule kann sich auf das Lernen beziehen. In offenen Formen von Unterricht werden Kinder und Jugendliche stärker in die Entscheidungen einbezogen, was und wie sie lernen. Partizipation kann sich aber auch auf die Organisation und das Zusammenleben an der Schule beziehen. Lernende und Eltern können zum Beispiel über Schülerparlamente, Schülervertretungen oder Elternversammlungen in die Entscheidungsprozesse an der Schule einbezogen werden. Den Lehrpersonen kann mehr Gestaltungsfreiheit in Bezug auf Lehrinhalte und -methoden oder die Schulorganisation gewährt werden.


WAS DIE SCHULE BEWEGT

SCHULREFORMEN DER VERGANGENHEIT UND der ZUKUNFT


1850-1900 Autorität und Kontrolle

Schule und Erziehung

Teilhabe und Mitsprache der Lernenden waren an den Schulen des 19. Jahrhunderts noch kaum ein Thema. Strafen – auch körperliche – waren ein gängiges Mittel, um die Autorität der Lehrkraft und die Kontrolle über die Klasse durchzusetzten. Doch es existierten auch andere Sichtweisen, man denke etwa an Jean-Jaques Rousseaus Verzicht auf Macht in der Erziehung oder Pestalozzis Gegnerschaft gegenüber der körperlichen Züchtigung. Insgesamt darf der Grad an Disziplin und Kontrolle in der Schule des 19. Jahrhunderts nicht überschätzt werden, denn Klagen über freche und undisziplinierte Schülerinnen und Schüler sind so alt wie die Schule selbst. Offiziell verbannt wurde die Prügelstrafe an den Schweizer Schulen erst in den 1980er-Jahren.

Niklaus Stoecklin, Schulmeister aus dem Bildzyklus «Die Fakultäten», 1930/31 (Universität Basel).


1900-1960 Der (geringe) Einfluss der Schulreform

Demokratische Schulen zum Ersten

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in ganz Europa Schulformen mit mehr Teilhabe erprobt. Etwa die Summerhill-Schule in England, die Odenwaldschule in Deutschland, die Freinet-Schulen in Frankreich oder die Ecole d’Humanité in der Schweiz. Während diese frühen demokratische Schulen in freier Trägerschaft gegründet wurden, gab es in Deutschland gar ein staatliches Schulexperiment: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden an den sogenannten Jenaplan-Schulen Kinder und Jugendlichen in demokratischer Teilhabe geschult.

Gruppenarbeit an einer Jenaplan-Schule, 1927 (Aus: Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen neuer Erziehung, 1933).

Schleppende Reformen

In den staatlichen Schulen war eine Mitsprache der Lernenden in inhaltlichen und organisatorischen Fragen nicht vorgesehen. Einzelne Primarlehrkräfte nahmen zwar durchaus reformpädagogische Postulate in ihren Unterricht auf, auf politischer Ebene vollzogen sich die Reformen aus demografischen, bildungspolitischen und ökonomischen Gründen allerdings nur schleppend. Erst ab den 1940er Jahren drangen didaktisch-methodische Neuerungen allmählich in den Unterrichtsalltag der Primarschulen ein. Insbesondere die ersten vier Schuljahre waren fortan der Nährboden für schulreformerische Bemühungen in anderen Schulstufen.

Schülerinnen und Schüler während dem Unterricht, Zürich, ca.1940-1950 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).


1960-1990 Autoritätskritische Experimente

Demokratische Schulen zum Zweiten

Nach 1968 wurde auch in der Schweiz mehr Partizipation verlangt und Autorität entwickelte sich für viele zum Reizwort. Angehende Lehrpersonen des Lehrerseminars Locarno starteten die Revolte: Im März 1968 besetzen rund 250 Studierende die Aula. Sie forderten eine Neuordnung des Unterrichts und Mitspracherechte für die Schülerschaft. Wieder waren es experimentelle Privatschulen, die den Zeitgeist aufgriffen. Als eine der ersten die «Freie Volksschule Trichtenhausen» in Zollikon im Kanton Zürich. Der Wunsch nach Mitsprache bezog sich allerdings nicht nur auf die Kinder: Regelmässig trafen sich Eltern und Lehrkräfte zu intensiven Diskussionen, alles sollte basisdemokratisch besprochen werden.

Studierende des ­Lehrerseminars in ­Locarno versuchen, sich am 12. März 1968 vor der Presse zu ­verbergen.

Mitsprache an den öffentlichen Schulen

Auch die öffentlichen Schulen sahen sich mit dem Wunsch nach mehr Mitsprache konfrontiert. Eltern verlangten mehr Einblick in den schulischen Alltag, protestieren gegen Kollektivstrafen und sprachen anlässlich von Elternabenden Fragen zum Sexualkundeunterricht, zur Planung einer Schulreise oder einer Landschulwoche an. Auch die Kinder erhielten mehr Mitsprache bei der Wahl von Unterrichtmethoden und Unterrichtsmedien oder entschieden in Phasen des «offenen Unterrichts», was sie wann mit wem erarbeiten wollten.

Titelseite der Schweizer Lehrerzeitung vom 29. Juni 1989.


1990-2010 Partizipation wird Gesetz

Kinderrechte

1997 ratifizierte die Schweiz die UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Artikel 12 sieht vor, dass die Vertragsstaaten dem Kind das Recht zusichern, seine Meinung in allen es berührenden Angelegenheiten frei zu äussern und diese Meinung «angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife» berücksichtigen. In einigen Kantonen wurde die Schülerinnen und Schüler-Mitbestimmung zudem gesetzlich verankert. Im Volksschulgesetz des Kantons Zürich heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler werden an den sie betreffenden Entscheiden beteiligt, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen».

Verabschiedung der UN Kinderrechtskonvention, 1989.

Schulleitungen

Viele kantonale Schulgesetze verlangten gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Schulleitung. Der traditionell eher kollegiale Aufbau von Schulen mit flachen Hierarchien wurde dabei ersetzt durch eindeutige Hierarchien, welche die Macht neu und für alle nachvollziehbar verteilten. Die Einrichtung von Schulleitungen war vielfach auch eingebettet in Bestrebungen hin zu einer erhöhten Autonomie der Einzelschulen, so etwa im Kanton Zürich mit dem Projekt Teilautonome Volksschulen (TAV).

Lehrerzimmer in der Schulanlage Friedrichstrasse, Zürich, 1991 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).


2010 – Zukunft Der Pressespiegel: Mitsprache gewünscht?

Mitsprache ausbaufähig

Heute werden in der Schweiz gemäss der UNICEF Kinderrechte-Studie mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen (55 Prozent) nicht in die Entscheidungsprozesse an den Schulen einbezogen. 62 Prozent der Kinder und Jugendlichen geben an, keine Stimme zu strukturellen Richtlinien wie Klassenregeln und zu schulischen Aktivitäten zu haben. Mehr Mitsprache wünschen sich allerdings nur 27 Prozent, während 60 Prozent angeben, mit ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten zufrieden zu sein.

Quelle: Kinderrechte aus Kinder- und Jugendsicht. Kinderrechte-Studie Schweiz und Liechtenstein 2021. Herausgegeben von UNICEF, 2021.

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4/8 Vernetzung und Veränderung von Lernräumen

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6/8 Medialisierung und Technologisierung