7/8 Individualisierung und Personalisierung

Klassenzimmer in Zürich um 1950 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).

Lernen in Zukunft noch alle das Gleiche?

Wie soll die Schule von morgen mit dem Verhältnis zwischen Standardisierung und Individualisierung im Unterricht umgehen? Bleibt der Klassenunterricht mit Inhalten, die für alle verbindlich sind? Oder sollen Lernende mehrheitlich individualisiert und auf ihre Bedürfnisse und Stärken zugeschnitten unterrichtet werden?

Individualisierung oder Personalisierung in der Schule meint die Berücksichtigung der Individualität der Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Das Gegenteil von Individualisierung ist Standardisierung. Standardisierter Unterricht heisst, dass alle Lernenden gleichzeitig am selben Schulstoff arbeiten und ihr Leistungsstand mittels einheitlicher Tests überprüft wird. Im individualisierten Unterricht arbeiten die Schülerinnen und Schüler an unterschiedlichen Aufgaben und mit vielfältigen Lernmaterialien. Auch die Leistungsüberprüfung kann individualisiert vorgenommen werden. Massgebend ist der individuelle Leistungsfortschritt und nicht der Quervergleich mit der Lerngruppe.


WAS DIE SCHULE BEWEGT

SCHULREFORMEN DER VERGANGENHEIT UND der ZUKUNFT


1850-1900 Frontalunterricht macht Schule

Einzelunterricht in Gruppen

Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lief der Unterricht in den Schulstuben üblicherweise nach folgendem Muster ab: Die Lehrperson rief einzelne Kinder oder kleine Gruppen auf, um sie zu prüfen oder das Geschriebene zu korrigieren, während die anderen Lernenden sich selber beschäftigten. Im Rahmen dieses «Einzelunterrichts in Gruppen» wurden die Schulkinder oft individuell unterrichtet, als ob sie zu Hause wären. Diese Form des Unterrichts geriet jedoch immer mehr in die Kritik, aufgrund seiner unsystematischen Anlage, des Zeitverlusts und der ungenügenden Beaufsichtigung der Kinder.

Durchschnittliche Klassengrösse an Schweizer Schulen in ausgewählten Schuljahren (Quelle: Historische Statistik der Schweiz)

Monitorialsystem

Als eine alternative Form des Unterrichtens grosser Gruppen von Kindern wurde bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts der «wechselseitige Unterricht» nach Andrew Bell und Joseph Lancaster praktiziert. Viele Kantone hatten ihn zur verbindlichen Unterrichtsmethode erklärt. Die Methode basierte auf altersdurchmischten Klassen, in denen fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler als Helferinnen und Helfer des Lehrperson (Monitoren) eingesetzt wurden. Die sogenannte Kehrordnung legte fest, welche Schülergruppen zu welcher Zeit in den Bänken sitzen und schriftlich arbeiten mussten und welche sich den Wänden des Schulzimmers entlang zum mündlichen Unterricht aufzustellen hatten.

Darstellung des Monitorialsystems durch den dänischen Karikaturisten Peter Christian Klæstrup, 19. Jahrhundert.

Frontalunterricht

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von vielen kantonalen Schulbehörden der Wechsel zum «Zusammenunterricht» – auch Frontalunterricht genannt – gefordert. Diese Unterrichtsform sollte die Unterweisung grosser Klassen erleichtern. Die räumliche Anordnung erlaubte es der Lehrperson, die Tätigkeit aller Lernender zu überwachen sowie Ablenkung und Müssiggang zu unterbinden. Eine wichtige Voraussetzung für die Etablierung des Frontalunterrichts war die Einrichtung von Jahrgangsklassen.

Klassenzimmer in der Stadt Zürich mit festgeschraubten und frontal ausgerichteten Schulbänken, 1909 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).


1900-1960 Statik und Dynamik

Fragen und Antworten

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte der frontale Unterricht, allenfalls als Unterrichtsgespräch, indem die Lehrperson Fragen stellte und die Kinder versuchten, diese zu beantworten. Grosse Bedeutung hatte auch die Einzelarbeit. Bei reformpädagogisch orientierten Lehrkräften an den öffentlichen Schulen kam durchaus auch einmal eine Partner- oder Gruppenarbeitsphase vor. Auch die jahrgangsübergreifende Landschule erlaubte eine flexiblere Unterrichtsgestaltung, wenn auf Geheiss der Lehrkräfte ältere Kinder jüngeren halfen.

Schulklasse beim Unterricht, Rüschegg (Kanton Bern) um 1942 (Burgerbibliothek Bern; N Eugen Thierstein 504).

Alternative Unterrichtsformen

An Reform-Schulen in freier Trägerschaft realisierten Lehrkräfte bereits um die Jahrhundertwende frühe Formen eines individualisierenden Unterrichts: Werkstattunterricht, Unterricht nach Wochenplan, Exkursionen, Schülerexperimente, ja sogar Unterricht in Projektform. Die öffentliche Schule nahm davon allerdings noch kaum Notiz.

Schulkinder beim Werkunterricht im Freien, Landerziehungsheim Grünau, Wabern bei Bern, 1923 (Burgerbibliothek Bern; AK.1545).


1960-1990 Differenzierung im Unterricht

Methodische Öffnung

In den 1970er-Jahren wurde in Lehrerkreisen die Idee eines «offenen Unterrichts» diskutiert. Kurse zu den Methoden der  Individualisierung des Unterrichts wurden in der Lehrerfortbildung angeboten. Der Anteil an Frontalunterricht sank gegen Ende der 1980er-Jahre auch mit der Initiative «ELF» (Erweiterte Lehr- und Lernformen), wo die Lehrkräfte geschult wurden, neben Partner- und Gruppenarbeiten auch Wochenplan- und Werkstattunterricht sowie Lernzirkel und sogar Projektunterricht zu arrangieren.

Flexible Klassenraumgestaltung mit Gruppenarbeitsplätzen in der Schulanlage Riedhof, Zürich, 1965 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).


1990-2010 Frontalunterricht auf dem Rückzug

Flexibler Unterricht

Um die Jahrhundertwende befand sich der Frontalunterricht definitiv auf dem Rückzug, zugunsten des Einsatzes von Partner- und Gruppenarbeit, von Lernzirkel, Wochenplanunterricht und Werkstattunterricht. Die flexiblere Ausstattung der Klassenräume mit beweglichem Mobiliar und Klassengrössen zwischen 19 und 25 Lernenden spielte dabei eine grosse Rolle.

Mobiliar auf Rollen in der Schulanlage Leutschenbach in Zürich, 2018 (Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich).


2010 – Zukunft Der Pressespiegel: Individualisierung durch Technik?

Personalisiertes Lernen

Überall auf der Welt entstanden in den letzten Jahren Unternehmen, die mit digitalen Tools das Lernen personalisieren wollten. In Indien hat sich «Byju’s», eine Learning-App, die sechs Milliarden Dollar wert sein soll, die Unterstützung von Facebook und dem chinesischen Internetgiganten Tencent gesichert. Der Hype um smarte Schulbildung hat allerdings auch bereits erste Risse bekommen. Das im Silicon Valley ansässige Bildungsunternehmen «AltSchool», in das unter anderem auch Mark Zuckerberg und Peter Thiel investiert haben, hat bereits wieder viele seiner eigenen Schulen geschlossen, an denen auf eine Personalisierung des Lernens mittels hybrider Lernformen gesetzt wird.

Werbung des indischen Bildungstechnologie-Unternehmens Byju’s.

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